Innenraum. Außenwelt. Und die Mitte?

Die Halle roch nach altem Holz, Reinigungsmittel und dieser speziellen Mischung aus Staub und Erwartungen. Dena war eine der Ersten. Natürlich. Sie war immer zu früh oder zu spät – nie rechtzeitig, nie so wie andere. Der Raum war groß, aber nicht einschüchternd. Akustisch gedämpft. Hohe Fensterfront nach Osten, das Licht fiel flach über den Boden, wurde vom Staub zerschnitten wie von Milliarden winzigen Gedanken. Ein Dutzend Stühle standen in einem lockeren Bogen. Kein Pult. Kein Tisch. Nur ein offener Kreis. An der Stirnseite eine einfache Projektion auf die Wand:

„Erstentscheidung – Jahrgang 42 – Leitung: Mx. Cassy“
Darunter: „Du bist nicht, was du musst. Du bist, was du wirst.“

Dena stellte ihre Flasche unter den Stuhl. Setzte sich. Rutschte wieder hoch. Saß halb aufrecht, halb in sich. Ihre Augen wanderten zur Tür. Sie hörte Schritte – zwei Stimmen, ein Lachen, dann das Quietschen der Tür.

„Du bist echt immer vorher da“, sagte Lilli und grinste, als sie hereinkam. Sie trug ein lockeres, cremefarbenes Kleid, darüber einen dünnen Pullover. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Zopf gebunden. Der Ausdruck in ihren Augen: weich, wach, freundlich.

Neben ihr: Phil. Fast gleich groß wie sie. Dünn, mit langen Ärmeln, obwohl es warm war. Sein Blick flüchtete. Er sah Dena an, dann wieder auf den Boden.

„Hatte Angst, ich steh allein rum“, sagte Dena. „Nie mit uns“, sagte Lilli und setzte sich neben sie. Phil setzte sich auf die andere Seite.

Sie. Gemeinsam. Seit der Grundschule. Sie waren verschieden und doch aus demselben Stoff. Lilli redete, wenn Dena schwieg. Phil spürte, wenn Dena log. Dena wusste, wann Phil etwas sagte, das sie nicht glauben konnte. Und doch hatten sich Dinge verschoben. Seit Lilli begann, sich zu zeigen. Seit Phil sich versteckte. Seit Dena spürte, dass auch in ihr etwas drängte – ohne Namen, ohne Richtung.

„Ich hab Angst vor dem Heute“, sagte sie. Lilli nickte sofort. „Ich auch. Aber ich will wissen, ob das da drin … einen Funken von mir trifft.“ Phil schwieg. Dann sagte er leise: „Ich will einfach nicht mehr, dass man mit mir umgeht, als wär ich jemand, der ich nicht bin.“

Dena wusste, dass viele aus dem Dorf mit diesem Ritual nichts anfangen konnten. Vor allem die Älteren sagten: „Früher hat man einfach irgendwann gearbeitet – das war Erwachsenwerden.“ Aber das hier war anders. Die Erstentscheidung war kein einzelner Tag, keine Zeremonie – sondern ein mehrwöchiger Prozess. Zehn Treffen über zehn Wochen hinweg, begleitet von Gesprächen, Übungen, Impulsen. Heute war nur ein Tag davon. Ein Ausschnitt. Kein Anfang und kein Ende – sondern ein Moment mittendrin. Am Ende dieser Reise, egal wie sie verlief, stand eine Feier. Kein Abschluss, sondern eine Anerkennung: Du hast dich mit dir selbst beschäftigt. Du darfst feiern, wer du geworden bist – oder wer du gerade bist.

Es gab Fachleute, die begleiteten: Biolog:innen, Psycholog:innen, Ethiker:innen. Nicht von oben herab. Nicht moralisch. Sondern körperlich. Neurologisch. Sozial. Emotional. Und dann gab es eben – Cassy. Eine Ausnahmefigur. Nicht nur Expertin, sondern jemand, den man aus den Medien kannte. Talkshows. Vorträge. Musik. Ein Mensch, der so fließend war, dass keine Kategorie jemals ganz stimmte.

„Ich hab mal gelesen, Cassy hat früher Maschinen entwickelt, die Gefühle sichtbar machen konnten“, sagte Lilli. „Das war Kunst“, murmelte Phil. „Vielleicht ist das hier auch Kunst“, sagte Dena.

Nach und nach füllte sich der Raum.

Zuerst kam ein blondes Mädchen mit zu viel Parfum und zu wenig Angst. Ihr Lachen hallte zu lang in der Halle. Dann ein Junge mit breiten Schultern, der sofort den Stuhl ganz rechts ansteuerte – weit weg vom Zentrum. Zwei weitere, die nebeneinander hereinkamen und sich wortlos trennten, als wären sie nur zufällig gleichzeitig angekommen. Ein stilles Mädchen mit grünen Haaren und einem Patch auf dem Ärmel: „Wellenmechanik ist auch Gefühl.“

Keiner stellte sich vor. Es gab keine Liste, kein Namensschild, kein Willkommensplakat. Nur der Kreis aus Stühlen, das Licht, das über alles strich, und ein leiser Windstoß, der durch die geöffneten Fenster eine dünne Gardine atmen ließ.

Dena beobachtete sie alle, aber aus dem Augenwinkel. Sie wollte nicht starren. Nicht zu offen sein.

Neben ihr beugte sich Lilli nach vorn, strich mit dem Finger über die Kante des Stuhls. „Ich finde es schön, dass es keinen Anfang gibt“, sagte sie leise. „Doch“, murmelte Phil, „es gibt einen. Ich spür ihn nur zu früh.“

Dena sah die beiden Zwillinge an. Gleiche Augenform. Gleiche Wangenknochen. Dieselbe kleine Narbe am rechten Daumen – Fahrradunfall vor fünf Jahren. Sie hatten dasselbe Elternhaus. Dieselbe Schule. Dasselbe Bett, bis sie sieben waren. Und doch … war alles anders.
Lilli war angekommen, ohne Anlauf. Seit sie neun war, hatte sie Kleidung gewählt, die fließte. Stoffe, die sich wie Wasser anfühlten. Gesten, die nicht gespielt wirkten, sondern aus ihr herauswuchsen. Sie hatte nie sagen müssen: Ich bin ein Mädchen. Sie war es. Für sich. Und irgendwann auch für andere.
Phil war … nicht da angekommen. Sein Körper war zu eckig, zu laut. Er sagte nie, dass er sich falsch fühlte. Nur, dass er sich nicht fühlte – jedenfalls nicht als das, was man sah. Er ließ Haare wachsen, aber nicht als Statement. Er mied Sport, mied Umkleiden, mied Nähe. Manchmal war sein Blick so leer, dass es Dena fror. Und manchmal … blitzte etwas auf, das Lilli nie hatte. Eine Wut. Keine gegen jemand. Nur gegen dieses Muss in allem.
Dena wusste: Es war nicht Erziehung. Nicht Umwelt. Nicht Prägung. Es war wie … ein inneres Geräusch. Bei Lilli: eine Melodie. Bei Phil: ein Störsignal. Sie liebte beide. Auf unterschiedliche Weise. Und sie fragte sich oft, ob sie selbst eher klang oder rauschte.

Ein paar Stühle knarzten. Jemand flüsterte, jemand lachte zu laut und verstummte dann sofort wieder. Die Luft war erfüllt von dieser unbestimmten Energie – wie vor einem Theaterstück, bei dem niemand weiß, ob man selbst mitspielen muss.

„Müssen wir uns jetzt alle umoperieren oder was?“, fragte jemand halblaut. Es war der Junge mit den breiten Schultern. Er sprach ins Nichts, aber alle hörten.

„Nein, du Trottel“, kam es prompt von der mit dem Parfum. „Es geht ums Nachdenken. Nicht um Messer.“ „Meine Schwester hat gemeint, man kriegt am Ende so ’ne Bescheinigung“, sagte ein Mädchen mit Zahnlücke. „Dass man was entschieden hat.“ „Aber was denn überhaupt?“, fragte jemand anderes. „Ich weiß gar nicht, was ich entscheiden soll.“ „Ob du so bleiben willst, wie du bist“, sagte Lilli ruhig. Ein paar drehten sich zu ihr. „Oder nicht“, ergänzte sie. Sie sagte es freundlich. Nicht belehrend. Einfach so, als wäre das klar.

Phil kaute auf seinem Ärmel. Dann sagte er trocken: „Oder du entscheidest, nichts zu entscheiden. Das ist auch erlaubt.“

Dena lächelte. Er klang wie jemand, der innerlich schon tausend Entscheidungen getroffen hat, ohne je eine auszusprechen.

„Die machen das jedes Jahr hier, oder?“ – „Nur wenn’s genug Leute gibt. Meist im Frühling. Wegen des Lichts und dem Neuanfang im Jahr, hat Cassy mal gesagt.“ – „Ist das wie Konfirmation früher?“ – „Nein. Da hast du geglaubt. Hier … fragst du.“

Die Stimmung im Raum begann zu kippen. Ein Junge klopfte mit dem Fuß im Takt gegen das Metallgestell seines Stuhls. Das Mädchen mit den grünen Haaren legte sich rücklings über zwei Sitzflächen und starrte demonstrativ an die Decke.

„Ey, wie lange soll das hier noch gehen?“, fragte der mit den breiten Schultern. „Ich hab nix unterschrieben, dass ich mich hier therapieren lassen muss.“ Lachen. Verhalten. Unsicher. Wie ein Bellton, um das eigene Unwohlsein zu übertönen.

Dena spürte, wie sich ihr Brustkorb zusammenzog. Das Licht flackerte kurz – eine Wolke zog vorbei, oder ein Vogel. Für einen Moment war der Raum grauer. Sie blickte zu Phil. Er hatte den Kopf gesenkt, die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt, als würde er sich kleiner machen.

„Tut dir das auch so weh?“, flüsterte Dena. Phil sah sie nicht an. Nur ein leises: „Was?“ – „Wenn sie so reden. Als wäre alles nur Witz oder Fake oder Show.“ Ein Nicken, kaum merklich. Dann ein Ausatmen.

„Ich glaub, die haben einfach nie dieses Loch gespürt“, sagte Phil. „Welches?“ – „Na das. Wenn du morgens aufwachst und dein Körper liegt da wie so’n Möbelstück, das du nie ausgesucht hast.“

Dena schluckte. Ihr Blick wanderte zu Lilli, die sich mit einer anderen unterhielt. Offen, lächelnd, hell. „Ich frag mich manchmal, warum es bei ihr so einfach war.“

Phil verzog das Gesicht, aber nicht böse. Nur müde. „Weil sie einfach … ist. Sie hat nie gezögert. Ich zögere dauernd. Ich denk ständig: Was, wenn ich nur jemand sein will, der jemand anderes sein will?“

Dena nickte. „Ich glaub, ich will nur aufhören, zwischen allem zu sein.“

Sie sahen sich kurz an. Nicht lang. Nicht tief. Aber echt. Dann drehte sich Phil halb zu ihr, fast wie im Reflex. „Wenn du irgendwann aufhörst zu zögern …“, sagte er. „Dann auch ich?“, fragte Dena leise. Phil nickte. „Dann auch ich.“

Die Tür öffnete sich nicht laut. Kein Auftritt. Kein Lichtwechsel. Einfach ein Schritt, dann ein weiterer – fast lautlos. Und plötzlich war Cassy da. Einige sahen sofort auf. Andere brauchten ein paar Sekunden, als hätte sich die Luft verändert. Lilli stieß Dena leicht mit dem Knie an, flüsterte: „Da.“ Phil saß ganz still. Cassy trug ein langes, schwarzes Hemd über einer Art Overall – alles fließend, nichts definierend. Keine Absätze, kein Schmuck, aber auch keine Schlichtheit. Es war, als hätte jemand „Kunst“ angezogen. Die Haare: silbern, nicht gefärbt. Haut wie Pergament mit leichten Falten. Augen: tief, lebendig, fast durchscheinend.

„Guten Morgen“, sagte Cassy. Und setzte sich. Einfach so. Kein Podium. Kein Auftritt. „Ich bin Cassy. Manche sagen Mx. Cassiel. Manche sagen nur: die da aus dem Fernsehen. Manche wissen gar nicht, wie sie mich nennen sollen. Das ist okay.“ Cassy sah in die Runde. „Ich war auch mal vierzehn. Und ich hab’s überlebt.“

Ein paar Lacher. Vereinzelte.

„Und ich war mal fünfzehn. Und sechzehn. Und siebenunddreißig. Und neunundfünfzig. Und in all diesen Jahren war ich nie ganz jemand – und nie ganz niemand.“

Cassy lehnte sich zurück, fast gemütlich. „Ich bin heute hier, weil ihr hier seid. Weil ihr eingeladen wurdet – nicht um jemand anderes zu werden, sondern um euch selbst aufmerksam zu beobachten. Um zu spüren, was in euch angelegt ist. Und vielleicht, wenn es sich richtig anfühlt, es auch zuzulassen.“

Einige saßen plötzlich gerader. Andere schauten aus dem Fenster. Dena spürte: Die Spannung war nicht weg – sie hatte nur die Richtung gewechselt.

„Was wir heute machen“, fuhr Cassy fort, „hat nichts mit Pflicht zu tun. Es gibt kein Ziel. Kein ‚richtig‘. Kein Diplom. Wenn ihr still seid – gut. Wenn ihr redet – auch gut. Wenn ihr am Ende geht und sagt: Ich habe nichts gelernt, aber ich fühl mich anders – perfekt.“

Dann lächelte Cassy. Ein echtes Lächeln, langsam und voller Falten. „Und keine Sorge. Ich will niemanden verändern. Nur: in euch reinschauen. Gemeinsam. Vielleicht. Wenn ihr mich lasst.“

Es war ein Moment, in dem keiner wusste, was jetzt kommt. Aber niemand sprach. Nicht aus Angst. Sondern, weil es still richtig war. Cassy ließ den Blick schweifen, ließ die Stille stehen wie ein Bild.

Dann: „Bevor ich irgendetwas frage, würde ich gern etwas wissen: Wer von euch hat schon einmal bewusst über das Wort Identität nachgedacht?“

Ein paar Hände zuckten. Einige Augen wurden groß, als hätte jemand gefragt, wie oft man sein Herz am Tag schlagen hört.

„Also … was ist das?“, fragte der Junge mit den breiten Schultern, noch immer laut, noch immer halb provozierend. „Ich hab ’ne Staatsbürgerschaft. Ist das ’ne Identität?“ Ein paar kicherten.

Cassy nickte. „Das ist eine Identität, ja. Aber sie ist dir zugeteilt worden. Du musstest nichts tun, um sie zu bekommen.“ Cassy beugte sich leicht vor. „Ich frage nach der anderen Art. Der, die in dir sitzt. Oder unter dir. Oder irgendwo hinter deinem Rücken. Die, die du manchmal spürst, wenn keiner zusieht.“

Ein Mädchen mit glitzernden Nägeln meldete sich zaghaft. „Ich weiß nicht mal, was ich sein will. Ich bin einfach ich.“ „Das ist ein sehr guter Anfang“, sagte Cassy.

„Aber was, wenn man gar nichts fühlt?“, fragte jemand anderes. „Dann ist das das, was du gerade bist“, antwortete Cassy ruhig. „Unklar. Leer. Offen.“

Phil zischte kaum hörbar: „Leer wie immer.“ Dena spürte einen Druck in der Brust, als würde da jemand zu tief in eine Frage greifen, die noch gar nicht geöffnet war.

Cassy ließ sich Zeit und sagte dann: „Identität ist kein Möbelstück. Du kriegst es nicht geliefert. Du baust es. Manchmal ganz allein, manchmal mit anderen. Und manchmal … findest du nur ein Stück davon. Ein Bein. Ein Kissen. Und der Rest kommt später.“

Das Mädchen mit den Nägeln runzelte die Stirn. „Aber woran merkt man, dass es das eigene ist?“ „Wenn du aufhörst, es mit anderen zu vergleichen“, antwortete Cassy leise.

Dena hatte bis dahin geglaubt, dass Identität eine Art Etikett sei. Etwas, das man sich aufklebt. Ein Wort, das erklärt, was man ist – wie bei Lilli. Aber jetzt dachte sie: Vielleicht ist es eher wie ein Duft. Den man kennt, obwohl man ihn nicht benennen kann.

Sie erinnerte sich an einen Moment im Badezimmer – neulich. Spiegel, Handtuch um die Brust geschlungen, der Körper nass, weich, fremd. Der Gedanke: Wenn ich mich nicht sehen müsste – wüsste ich dann, wer ich bin? Und gleich danach: Oder gerade dann?

Cassy stand auf, ging in die Mitte des Kreises. „Ich möchte ein Experiment vorschlagen. Keine Sorge – niemand wird gezwungen. Ich brauche eine Person. Einfach eine. Wer sich traut.“

Kurzes Zögern. Dann – fast schon zu schnell – hob sich eine Hand.

Ein Mensch mit breiten Schultern, geschminkten Augen, aber schlichten Schuhen. Glatze, aber große Ohrringe. Jacke wie aus einem Fantasy-LARP. Der Gesichtsausdruck: leicht spöttisch.

„Rami“, sagte die Person und stand auf. „Ich bin weder Mann noch Frau, aber auf Partys kommt man so schlecht damit durch.“

Ein paar lachten. Nicht böse – eher unsicher.

„Danke, Rami“, sagte Cassy. „Ich möchte, dass du jetzt eine Rolle einnimmst. Du bist … jemand anderes. Vielleicht jemand, der genau weiß, wer er ist. Vielleicht das Gegenteil.“

Rami nickte. Ging drei Schritte vor. Schaute in die Runde. Dann veränderte sich etwas. Der Blick wurde hart. Die Stimme tiefer, forciert: „Ich bin ein echter Kerl. Ich hab nix gegen Queers, aber man muss ja wohl noch normal bleiben dürfen.“ Kurze Pause. „Ich hab Muskeln, ich hab einen Job, ich hab ’ne Freundin. Was wollt ihr eigentlich alle mit eurem Identitätsquatsch? Früher hat man das gar nicht gebraucht.“

Stille. Dann ein Raunen. Phil verschränkte die Arme. Lilli sah angespannt zu Cassy. Dena hielt den Atem an.

Rami ging ein paar Schritte. Schneller. „Ich will einfach in Ruhe gelassen werden. Ich will keine Pronomen kennen müssen. Ich will keine Diskussion über Toiletten. Ich will meine Ruhe.“

Cassy sagte nichts.

Dann – plötzlich – kippte Rami. Nicht äußerlich. Innen. Die Stimme brach. Die Haltung sackte zusammen.

„Aber wenn ich nachts allein bin … dann weiß ich nicht mal, ob ich mich selbst anschauen kann.“ Ein Zittern. „Ich weiß nicht, ob ich der bin, den ich verteidige. Oder der, den ich verdränge.“

Stille. Ein Blatt vom Baum draußen prallte gegen die Scheibe – kaum hörbar.

Rami stand da. Atmete schwer. Sah niemanden an. Dann flüsterte er: „Ich hab diese Rolle so lange gespielt, dass ich vergessen hab, wie ich eigentlich bin.“ und setzte sich wieder.

Dena spürte einen Stich. Nicht Mitleid. Nicht Angst. Etwas … Erkanntes. Als hätte Rami etwas ausgesprochen, das in ihr nur als Nebel existierte. Sie dachte: Wie viele spielen hier gerade irgendwas – auch ich?

Phil murmelte: „Scheiße.“ Lilli legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. Nicht um zu trösten. Um zu verbinden.

Cassy sagte leise: „Manche Rollen geben uns Schutz. Andere sperren uns ein. Und manche … wachsen uns über die Haut, bis wir nicht mehr wissen, wo sie aufhören.“

Cassy stand wieder. Still. Kein Lächeln. Aber auch keine Schwere. Nur Präsenz.

„Ich möchte euch eine andere Sprache anbieten. Für einen Moment. Nicht die der Menschen, der Namen, der Kategorien. Sondern die Sprache der Bilder. Denn oft weiß unser Innerstes, was wir sind – bevor wir Worte dafür haben.“

Sie ging langsam im Kreis. „Wenn du heute etwas sein könntest, das nicht du bist – ein Tier, ein Gegenstand, ein Naturphänomen, ein Instrument – was wärst du? Und warum?“

Ein Murmeln. Ein Lächeln hier, ein Stirnrunzeln dort. Cassy hob sanft die Hand. „Keine Erklärung muss vollständig sein. Ein Satz genügt.“

Cassy setzte sich und wartete. Ein paar Sekunden Stille. Dann:

„Ein Tintenfisch“, sagte Lilli. „Weil ich mich der Umgebung anpassen kann. Aber darunter bleibe ich weich.“
„Ein Spiegel“, sagte das grünhaarige Mädchen. „Weil ich nie weiß, ob ich echt bin oder nur zurückwerfe, was andere sehen wollen.“
„Ein Felsen“, murmelte jemand von hinten. „Weil ich mich nicht bewegen will. Aber die Zeit tut’s trotzdem.“
„Ein Elektroschocker“, sagte der breite Junge überraschend. Einige kicherten. Er grinste. Dann wurde er ernst. „Weil ich nur auffalle, wenn ich weh tue.“

Cassy nickte bei jeder Antwort. Kein Urteil, kein Kommentar. Nur Präsenz.

Phil sprach leise: „Ich wäre gern … Nebel. Der alles einhüllt, ohne dass man weiß, wo er beginnt oder endet.“ Er hielt kurz inne. „Aber heute … fühl ich mich eher wie ein leerer Kleiderbügel.“

Stille. Lilli atmete scharf ein. Dena legte instinktiv eine Hand auf Phils Arm. Keine Worte. Dann war sie selbst an der Reihe. Sie zögerte. Suchte nach einem Bild. Etwas, das sich nicht lächerlich anfühlte. Nicht übertrieben. Nicht falsch.

„Ich bin … vielleicht … ein Schmetterling. Aber noch in der Puppe. Und ich weiß nicht, ob’s Flügel werden. Oder nur … leere Hülle.“

Kein Kichern. Kein Laut. Nur Cassy, die flüsterte: „Auch das ist Werden.“

Pause.

Dena stand draußen auf dem Kiesplatz hinter der Halle. Die Luft war klar, aber es roch nach feuchter Erde. In der Ferne bewegten sich die Felder langsam im Wind, als würde die Landschaft atmen. Sie hörte Schritte hinter sich, das Knirschen von Schuhen auf Stein. Dann Rami, rauchend. Nicht zur Show. Eher wie ein altes Ritual gegen das innere Zittern.

„War mutig von dir da drinnen“, sagte Dena, ohne aufzusehen.

„War’s nicht“, antwortete Rami. „Ich kann sowas nur in Rollen. Wenn ich spiele, bin ich sicher. Wenn ich ich bin … dann wackelt alles.“

Dena nickte. „Ich wackle die ganze Zeit. Aber ich spiele nicht mal. Ich bin einfach … da. Ohne Form.“

Rami blies langsam den Rauch aus. „Manchmal glaub ich, ich hab meine Form zu früh gegossen. Und jetzt passt sie nicht mehr.“

Sie schwiegen.

Dann sagte Dena leise: „Glaubst du, man weiß irgendwann sicher, wer man ist?“

„Nee“, sagte Rami. „Aber man weiß irgendwann sicher, wer man nicht mehr sein will.“

Phil saß auf der Steinmauer beim Fahrradständer. Lilli stand daneben, die Arme verschränkt. „Du musst mich nicht dauernd verteidigen“, sagte Phil.

„Ich verteidige dich nicht. Ich sehe dich“, sagte Lilli.

„Genau das meine ich“, zischte Phil. „Du siehst, was ich vielleicht noch gar nicht bin.“

„Aber du spürst es doch. Sonst würdest du nicht so kämpfen.“

Phil schlug leicht mit der Faust auf den Oberschenkel. „Du bist so verdammt sicher. Schon immer gewesen. Ich nicht.“

Lilli kniete sich hin, sah ihm in die Augen. „Ich war sicher, weil du immer da warst. Aber ich kann dich nicht mitziehen. Du musst deinen Weg selbst gehen.“

Dann senkte Phil den Kopf. „Und was, wenn mein Weg … nicht zu dir zurückführt?“

Lilli streichelte ganz kurz seine Schulter. „Dann schreib mir von dort. Ich will wissen, wie’s ist.“

Als sie wieder saßen, wartete Cassy nicht lange und wusste, die Pause hatte etwas geöffnet.

„Ihr habt heute große Dinge gesagt. Große Bilder. Große Gefühle.“

Cassy sah in die Runde. „Aber manche von euch wollen vielleicht wissen, wie das geht. Wie man … wird. Was man tun kann. Was erlaubt ist. Was möglich ist.“

Ein Nicken hier. Ein Stirnrunzeln da.

„In unserer Gesellschaft ist Transition keine Ausnahme. Sie ist Teil des Wachsens. Das kann heißen: neue Pronomen. Oder ein neuer Name. Es kann heißen: Kleidung anders. Sprache anders. Oder Hormone. Operationen. Medizin. Alles, was euch hilft, euch im Spiegel zu erkennen. Oder überhaupt zu sehen.“

Cassy machte eine Pause. „Aber wichtiger als all das: Ihr habt das Recht, zu werden, wer ihr seid. Nicht, weil ihr etwas leisten müsst. Nicht, weil ihr ein Zertifikat braucht. Sondern weil ihr Menschen seid. Und Identität ist kein Bonus. Sie ist euer Innerstes. Euer Zuhause.“

Dena spürte, wie sich etwas löste. Nicht wie ein Knoten, der aufgeht. Eher wie ein Seil, das man endlich loslässt, weil man merkt: Es hat einen die ganze Zeit gehalten – aber nie getragen. Es war wieder still geworden im Raum. Nicht die gespannte Stille von vorhin – sondern eine, die wie ein Atemzug nach innen ging. Cassy hatte sich wieder gesetzt, die Hände locker auf den Oberschenkeln. Niemand sprach. Alle waren bei sich. Und trotzdem gemeinsam. Dena spürte ihr Herz klopfen. Nicht laut, aber rhythmisch, wie eine Trommel aus dem Nachbarzimmer. Ihre Handflächen waren feucht. Ihre Lippen trocken. Sie wusste, dass sie reden wollte. Schon seit einer Weile. Aber erst jetzt konnte sie.

Sie hob die Hand nicht. Sie sagte einfach: „Ich will was sagen.“

Alle schauten zu ihr. Kein Lachen. Kein Raunen. Nur Blicke.

Dena sah kurz zu Lilli, dann zu Phil. Dann zu Cassy. Dann in die Mitte des Kreises, dorthin, wo der Staub im Licht tanzte wie leise Fragen.

„Ich weiß nicht, wer ich bin“, begann sie. „Und das sag ich nicht, weil’s dramatisch klingt. Sondern weil ich’s jeden Morgen denke.“

Ein leichtes Zittern in der Stimme. Aber sie fuhr fort:

„Ich hab mich so lang versucht, einfach … durchzuschummeln. Mädchenklamotten für Mama. Stille für Papa. Lächeln für Lehrer. Und immer gedacht: Vielleicht wird’s irgendwann klar.“

Sie atmete ein. Aus. Sah niemanden direkt an.

„Aber es wird nicht klar. Es wird nur schwerer. Weil ich weiß: Ich bin nicht Junge. Aber auch nicht nicht Mädchen. Ich bin nicht das Dazwischen – aber auch nicht das Eine.“

Ein paar nickten. Langsam. Dicht.

„Und ich glaub … ich will trotzdem etwas wählen. Nicht, weil ich’s sicher weiß. Sondern weil ich’s ausprobieren will.“

Dann, leise, aber fest: „Ich will weiblich leben. Ich will wissen, wie sich das anfühlt, wenn ich’s darf. Nicht, weil ich muss. Sondern weil ich kann.“

Ein Atemzug. „Ich will nicht mehr nur beobachten. Ich will sein.“

Stille.

Cassy senkte leicht den Kopf – eine stille Geste der Anerkennung. Niemand klatschte. Niemand kommentierte.

Nur Rami sagte leise, fast wie für sich: „Willkommen im Werden.“

Und Phil – mit einem Lächeln, das so traurig war wie schön: „Dann ich auch.“

Nach Denas Worten war es erst still, dann langsam wieder lebendig geworden. Die anderen sprachen leiser, aufmerksamer. Ein paar begannen, miteinander zu flüstern. Cassy lehnte sich zurück – eine Geste, die Raum ließ für das, was kommen sollte. Phil aber bewegte sich nicht. Er starrte auf einen Punkt am Boden. Sein Fuß wippte leicht. Dena beobachtete ihn. Spürte ein Ziehen in der Brust – diese Mischung aus Angst und Hoffnung, die man nur kennt, wenn man etwas gesagt hat, das man nicht mehr zurückholen kann. Dann drehte er sich zu ihr.

„Weißt du noch vorhin“, sagte er leise, „als ich gesagt habe, ich mach’s, wenn du’s machst?“

Dena nickte. Phil atmete durch. „Ich mach’s.“

Sie runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

„Ich will’s auch ausprobieren. Nicht, weil ich’s weiß. Weil ich’s endlich … spüren will.“

Er wirkte jünger, weicher – wie jemand, der einen Stein aus dem Rucksack gelegt hat, den er gar nicht bemerkt hatte.

„Ich will weiblich leben. Wie du.“

Ein Lächeln stahl sich über Denas Gesicht. Dann: ein Innehalten.

„Aber …“, sagte sie, „was heißt das eigentlich? Weiblich?“

Cassy hatte es gehört – oder gespürt, und erhob sich wieder.

„Das ist eine wichtige Frage. Was meint das eigentlich – weiblich sein?“

Die Gruppe verstummte.

„Manche sagen: Brüste. Stimme. Kleidung. Weichheit. Andere sagen: Pflege. Nähe. Fürsorge. Aber das sind alles Hüllen. Eigenschaften. Was bedeutet es für euch? Wer will versuchen, es zu fassen – mit eigenen Worten?“

Lilli hob die Hand: „Für mich heißt es: Raum geben. Nicht kleiner werden – sondern einladen.“

Die Grünhaarige sagte: „Ich fühl mich weiblich, wenn ich meine Zartheit nicht verstecken muss.“

Der breite Junge murmelte: „Ich dachte immer, weiblich ist das Gegenteil von stark. Aber vielleicht ist’s einfach ’ne andere Art von Stärke.“

Phil schwieg. Dann sagte er: „Ich weiß es nicht. Ich will nur, dass mich niemand mehr zwingt, hart zu sein.“

Dena: „Ich dachte immer, es geht um Röcke oder Stimmen oder Lippen. Aber vielleicht ist’s mehr wie … ein Zuhause. Dass man endlich die Möbel hinstellt, die man selbst ausgesucht hat.“

Cassy nickte. „Weiblichkeit ist kein Ort. Sie ist eine Bewegung – kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Prozess, der sich durch dich hindurch entfaltet.“ Sie sprach ruhig, aber mit dieser besonderen Mischung aus Sachlichkeit und Wärme, die in der Luft blieb, selbst wenn sie schwieg. „Viele versuchen, Weiblichkeit biologisch zu fassen. Hormone, Chromosomen, sekundäre Geschlechtsmerkmale. Doch das ist nur ein Bruchteil – und oft der irreführendste. In Wahrheit ist Weiblichkeit ein Zusammenspiel aus sozialer Prägung, neuronaler Verarbeitung, kultureller Resonanz und subjektivem Erleben. Und selbst das ist nicht stabil.“

Cassy sah in die Runde, kurz, suchend, als würde sie bei jedem Blick innerlich nicken. „Weiblichkeit kann Fürsorge sein. Oder Widerstand. Sanftheit oder Schärfe. Stimme, Haltung, Bewegung, Wärme. Alles davon. Oder nichts.“ Ein Lächeln. „Und du darfst dich darin verlieren, finden – oder neu erfinden. Immer wieder.“

Sie legte die Hände locker ineinander, als wolle sie etwas zeigen, das sich nicht festhalten lässt. „Und nur zur Erinnerung: Das gilt nicht nur für Weiblichkeit. Auch Männlichkeit ist kein Ziel. Nichtbinäres Empfinden ist keine Lücke. Es gibt keine Pflicht zur Eindeutigkeit. Manchmal ist man nur für einen Moment weiblich. Oder männlich. Oder ganz anders. Auch das ist wahr. Auch das ist echt.“

Dann hob Cassy leicht die Schultern, als wolle sie sagen: Ich weiß, wovon ich rede. Nicht demonstrativ. Eher wie jemand, der aufgehört hat, sich erklären zu müssen – weil sie längst ganz in dem lebt, was andere noch zu benennen versuchen.

Die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Nicht gewaltsam – aber deutlich. Ein heller Streifen Licht schnitt in den Raum, und in seinem Zentrum: Tina. Absätze. Ein knielanger Mantel in leuchtendem Rot, offen getragen über einem figurbetonten Kleid. Schmuck, aber nicht überladen. Lippen in Kirschrot. Haare hochgesteckt, ein einzelner Strähnchenring glänzte an ihrem Ohr. Sie sah aus wie ein Film, der mitten in ein Standbild eingefallen war. Ein paar Jugendliche drehten sich um. Einige starrten. Andere blickten schnell weg. Ihre Stimme war warm, aber klar.

„Ich wollte nicht stören. Ich …“ – sie zögerte kurz – „wollte mit dir sprechen, Cassy. Dringend.“

Cassy nickte. „Du hast Glück. Es geht gerade um Weiblichkeit. Setz dich. Wenn du magst.“

Ein paar Tuscheln. Tina sah in die Runde. Ein leichtes Lächeln – mehr Geste als Gefühl. Dann setzte sie sich. Beine übereinandergeschlagen. Aufrecht. Und doch … ein kleines Zucken in der Hand, kaum sichtbar. Dena spürte Hitze im Gesicht. Nicht aus Scham. Aus … Faszination. Tina war etwas. Eine Präsenz. Eine Entscheidung, die durchgezogen war. Kein Zögern, kein Zwischenraum. Alles an ihr schien zu sagen: Ich weiß, wer ich bin. Dena konnte den Blick kaum lösen. War es Bewunderung? Neid? Sehnsucht? Vielleicht alles auf einmal. Tina war so … fertig. So vollständig. So kompromisslos in ihrer Erscheinung. Dena fragte sich, wie es sich anfühlen musste, morgens aufzuwachen und nicht zu zweifeln. Den Körper nicht zu prüfen, das Spiegelbild nicht zu hinterfragen. Einfach zu sein. War das möglich? Oder nur eine gute Illusion? Und wenn es eine war – wie lernte man sie? Ein Teil in Dena wollte sich wegdrehen. Der andere trat innerlich einen Schritt näher. Vielleicht will ich nicht so sein wie Tina, dachte sie. Aber vielleicht will ich auch nicht so bleiben, wie ich bin. Aber: War sie auch ein Zuhause?

Cassy sprach weiter. „Wir reden gerade darüber, was Weiblichkeit für jede:n bedeutet. Und dass sie nicht eine Form hat – sondern viele. Tina, darf ich dich fragen: Was ist Weiblichkeit für dich?“

Alle schauten zu ihr. Sie lächelte. Kurz. Müde. Dann sagte sie: „Weiblichkeit ist für mich: Kontrolle. Über mich. Über den Blick der anderen. Ich habe lange genug erlebt, wie man mir sagt, wer ich nicht bin. Jetzt bestimme ich das selbst.“

Ein Raunen ging durch den Raum. Nicht negativ – eher wie das Flackern von Bedeutung.

Phil wirkte angespannt. Er flüsterte: „Das ist mir zu viel.“ Dena spürte, wie sich ein Knoten in ihr löste. Vielleicht will ich nicht Kontrolle. Vielleicht will ich nur … mich selbst.

Cassy sah Tina lange an. Dann: „Und wenn du die Kontrolle mal loslässt? Was bleibt dann?“

Tina schluckte. „Dann … bin ich wieder vierzehn. Wieder die, die sich im Dunkeln geschminkt hat, weil sie das Licht nicht aushielt.“ Sie sah niemanden an. „Ich … arbeite daran.“

Stille.

Dann sagte Rami leise: „Stark sieht manchmal so aus wie glatt. Aber glatt ist manchmal nur sehr fest gebunden.“

Ein paar nickten – vielleicht, weil sie wussten, wie anstrengend es ist, innerlich zusammengehalten zu wirken. Weil sie spürten, dass Kontrolle nicht dasselbe ist wie Echtheit. Weil sie sich darin selbst wiedererkannten.

Und Dena dachte: Ich will nicht glatt. Ich will weich – und echt.

Die Luft im Raum war dicker geworden, seit Tina sprach. Nicht unangenehm – aber geladen. Wie ein Raum, in dem gerade ein Gewitter war und nun nur noch der Ozongeruch blieb. Dena konnte die Blicke der anderen fast fühlen. Die meisten schauten zu Tina. Manche unverhohlen. Manche verstohlen. Nur Phil sah weg. Sein Kiefer war angespannt.

„Darf ich was fragen?“, kam es zögerlich von der Grünhaarigen. Tina sah sie an, sanft. „Natürlich.“

„Also … woher weißt du das alles? Ich meine … du klingst, als hättest du das alles schon durchgespielt.“

Tina lächelte. Dann nickte. „Ich bin … schon ein paar Jahre weiter als ihr. Ich war mal auf einem dieser Seminare. Damals … war das hier noch ganz anders. Strenger. Wissenschaftlicher. Kälter.“ Sie sah kurz zu Cassy. „Jetzt ist es … wärmer.“

„Und du … warst schon immer so?“ Ein Junge, bisher still, sagte es. Fast schüchtern.

Tina zögerte. „So?“

„Also … eine Frau. So … richtig.“

Stille. Cassy sagte nichts.

Tina atmete ein. Dann aus. „Ich war nicht immer sichtbar als das, was ich heute bin. Aber ich war es immer.“

Ein paar schauten verwirrt. Einige staunten. Phil flüsterte: „Ich wusste es.“

Dena spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

„Also … warst du … ein Mann?“, fragte jemand vorsichtig.

Tina sah auf den Boden. Dann hob sie den Blick. „Ich war ein Kind, das jeden Tag aufwachte und dachte: Wieso sieht mich niemand richtig? Und irgendwann … hab ich aufgehört zu warten.“

Die letzte Antwort von Tina hatte eine neue Stille erzeugt. Eine, in der nicht nur gelauscht wurde – sondern gefühlt.

Und genau dort, wo es wehtut, meldete sich eine neue Stimme. Jung. Hart. Neugierig.

„Und wie ist das dann mit Liebe?“

Tina drehte sich in die Richtung. Ein blasser Junge, vermutlich zwölf oder dreizehn. „Ich meine … wer liebt dich denn? Also … echt?“

Stille.

Cassy beobachtete Tina. Sagte nichts. Die Gruppe wartete.

Tina atmete. „Manche nicht. Manche, weil sie Angst haben. Manche, weil sie denken, ich bin falsch. Und ein paar … weil sie sehen, wer ich wirklich bin.“

Ein anderer fragte: „Und Sex? Geht das überhaupt?“

Ein paar kicherten. Cassy hob nur eine Augenbraue – das Kichern starb sofort.

Tina sah in die Runde. „Ja. Natürlich geht das. Aber darum geht’s nicht.“ Sie wurde leiser. „Das Wichtigste ist: Ich kann dabei ich sein. Nicht eine Hülle, die ich aushalten muss.“

Die Grünhaarige fragte: „Darf man das überhaupt – so komplett ändern?“ Ihre Stimme war nicht vorwurfsvoll – eher brüchig.

Tina sah sie an. Sanft. „Du darfst. Du darfst dich verändern. Du darfst dich neu denken. Du darfst sogar falsch liegen – und später nochmal neu anfangen. Du darfst alles – solange du niemandem schadest und dich selbst nicht verlierst.“

Dena hatte geschwiegen. Sie hatte gelauscht, gespürt, geschluckt. Jede Antwort hatte in ihr etwas verschoben. Aber eine Frage blieb.

Sie hob die Hand nicht. Sie hob nur den Blick. „Tina …“, sagte sie leise. Tina sah sie sofort. Irgendetwas in ihrem Gesicht wurde weich. „Ja?“

„Wie hast du gewusst, dass du’s aushältst? Also … die Einsamkeit? Das Anderssein? Den Anfang … wenn man noch niemand ist?“

Tina blinzelte. Dann sagte sie, fast flüsternd: „Ich wusste es nicht. Ich bin trotzdem gegangen. Weil ich musste. Weil Identität manchmal lauter schreit als Angst. Weil es irgendwann keine Alternative mehr gibt, wenn du weißt, wer du bist – und alles andere sich anfühlt wie sterben auf Raten.“

Dena schluckte. „Ich glaube, ich will auch gehen. Aber ich hab so Angst … dass es gar kein Ziel gibt. Nur … Weg.“

Tina nickte. „Dann nimm jemanden mit.“

Phil räusperte sich. „Zwei wären besser“, sagte er.

Dena lächelte. Und weinte ein kleines bisschen. Aber niemand sagte was. Und das war das Beste daran. Der Raum war still. Man hörte den Wind. Ein Stuhl knarzte leise. Irgendwo tickte eine Armbanduhr. Cassy stand nicht auf und saß einfach weiter da. Die Hände ruhig, der Blick weich.

„Danke“, sagte Cassy. Nicht laut. Nicht zeremoniell. Einfach: Danke. „Ihr habt heute etwas gemacht, das viele Erwachsene nie schaffen: Ihr habt euch berührt – ohne euch zu verstecken. Und das ist vielleicht … mehr Identität, als jedes Wort erklären kann.“

Cassy atmete langsam ein. Dann aus.

„Es gibt kein Fazit. Es gibt keinen Stempel, keine Schublade. Es gibt nur das, was sich in euch bewegt hat – und noch bewegen wird.“

Einige nickten. Andere sahen auf ihre Schuhe. Manche schauten in den Himmel.

„Ich möchte euch eine Aufgabe geben. Kein Muss. Nur ein Bild. Sucht euch heute einen Ort – draußen, drinnen, in euch. Und sagt dort leise einen Satz: Ich darf werden. Nicht: Ich muss sein. Nicht: Ich sollte anders sein. Nur: Ich darf werden. Denn das ist der Anfang von allem.“

Cassy sah in die Runde.

„Wir sehen uns. Wer will.“ Stand auf, langsam, lächelnd und verließ den Raum, um dem heute Passierten Platz zu schaffen, um es wirken zu lassen.

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