Das Lagerfeuer der Zahlen

Eine Geschichte über Ordnung, Wandel und die Schönheit des Anderen

Es war eine stille Nacht.
Inmitten eines weiten, dunklen Feldes brannte ein Lagerfeuer,
umgeben von zehn alten Freunden:
den Zahlen von 0 bis 9.

Sie kannten sich gut.
Jede wusste, wer sie war,
was sie konnte,
wo sie hingehörte.

Die 1 war stolz und aufrecht –
Anfang aller Dinge.
Die 2 war sanft, eine Spiegelung.
Die 3 war verspielt, die 4 strukturiert.
5 brachte den Wandel,
6 die Harmonie.
7 war geheimnisvoll, schweigsam,
8 unendlich tief,
9 blickte weise zurück,
und die 0 war das stille Zentrum.

Sie saßen im Kreis, wie sie es immer getan hatten.
Vertraut. Berechenbar.
Bis etwas Unbekanntes aus der Dunkelheit trat.

Es war eine Zahl.
Aber keine von ihnen.
Sie flackerte leicht,
schimmerte zwischen den Welten,
und fragte:
„Ist noch ein Platz frei?“

Ein Murmeln ging durch den Kreis.
√2, sagten einige.
Eine irrationale Zahl.

Sie passte nicht ins Raster.
Nicht teilbar, nicht schreibbar, nicht zählbar.
Einige rückten zusammen. Andere schauten weg.

Doch die 7,
die immer ein wenig anders war,
rückte zur Seite –
und machte Platz.

√2 setzte sich.
Und das Feuer flackerte heller.

Sie erzählte:
von π, der Zahl in jedem Kreis.
Von e, der Zahl des Wachstums.
Von i, der Zahl, die in keiner Welt existiert,
aber jede Schwingung trägt.
Sie erzählte von Zahlen,
die sich nicht greifen lassen,
aber alles zusammenhalten –
in Musik, in Licht, in Bewegung.

Einige Zahlen hörten zu.
Andere zweifelten.

1 stand auf und sprach:
„Wenn wir zulassen,
was wir nicht verstehen,
verlieren wir nicht uns selbst?
Unsere Ordnung?
Unsere Sicherheit?“

Da antwortete 5:
„Wenn wir nur zulassen,
was wir kennen,
bleiben wir ewig dieselben.
Dann gibt es keinen Tanz,
kein Wachsen,
keine Überraschung.“

Und 7,
die bis dahin geschwiegen hatte,
sprach leise, aber klar:

„Wir haben gelernt zu zählen.
Jetzt müssen wir lernen zu fühlen.
Was wir nicht messen können,
können wir vielleicht trotzdem umarmen.
Und wenn wir das tun…
werden wir mehr, als wir waren.“

Eine Stille senkte sich über den Kreis.
Doch es war keine bedrohliche Stille.
Es war die Stille vor der Veränderung.

Die 6 schloss die Augen –
und träumte von einer Stadt,
gebaut aus Spiralen, Wellen,
und Zahlen, die tanzen konnten.

Die 8 sah sich selbst
nicht mehr nur als doppelte Vier,
sondern als Schleife ohne Ende.

Und selbst die 3,
die nie lang still sitzen konnte,
flüsterte:
„Ich will diese Welt sehen.“

Sie blieben lange am Feuer.
Und als der Morgen kam,
hatten sie noch nicht alles verstanden –
aber sie hatten begonnen, zu begreifen:

Was anders ist,
ist nicht falsch.
Was fremd ist,
kann Freund werden.
Und was wir nicht zählen können,
kann trotzdem zählen.

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.

Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch diese Website einverstanden. Name und Kommentar werden veröffentlicht. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht und wird nur verwendet, um mit Dir in Kontakt zu treten, wenn dies erforderlich ist.

Weitere Informationen findest Du in den Datenschutzbestimmungen.

Ähnliche Beiträge

Vorheriger

Nächster